Mittwoch, 19. September 2007

Individualität versus Solidarität? – eine falsche Alternative!

Simone Weil hat einmal gesagt, es gebe Dinge, die seien auf einer bestimmten Ebene wahr und auf einer anderen Ebene falsch. Genau das habe ich empfunden, als ich in den vergangenen Wochen die Kontroverse in der „taz“ zwischen „alten“ Solidaritätsfeministinnen und „neuen“ F-Klasse-Vertreterinnen verfolgte. Auf der einen Seite Ute Gerhard und Sabine Hark, die gegen den Individualismus der neuen Erfolgs-Feministinnen für ein politisches Konzept plädierten, das Ungerechtigkeiten und Benachteiligung der weniger Erfolgreichen berücksichtigt. Auf der anderen Seite Katja Kullmann, die meinte, wir sollten endlich aufhören, von erfolgreichen Frauen Moral und Rücksichtnahme einzuklagen. Frauen seien nun einmal unterschiedlich, und das sei gut so. Kaum jemand käme ja auch "auf die Idee, einen männlichen Top-Manager daraufhin abzuklopfen, ob er den auf der Strecke gebliebenen Hartz-IV-Oskar tagein tagaus im Herzen trägt." (Wieso eigentlich nicht?)

Natürlich hat Kullmann mit dem Hinweis auf die Differenz unter Frauen recht. Aber das ist ja keine neue Idee. Es ist bei ihr eben so ähnlich, wie ich es auch schon an Thea Dorn kritisiert habe - und übrigens ist das ein Punkt, den die neuen Individual-Feministinnen mit ihrer Hassgegnerin Eva Herman gemeinsam haben: Für den Feminismus interessieren sie sich nicht wirklich. Sie schreiben halt drüber, weil das grade ein Modethema ist. Was sie mal so gehört oder in der Zeitung gelesen haben, genügt ihnen für ihr Urteil. Bücher verkaufen sich sowieso viel besser, wenn wie voll ins Klischee greifen: "Jeder, wirklich jeder Aufsatz und jede Rede zum Thema mündet im Appell zu mehr Solidarität" behauptet Katja Kullmann dreist. Welche feministischen Aufsätze und Vorträge hat sie denn in letzter Zeit zur Kenntnis genommen? Viele können es nicht gewesen sein. Denn sonst wüsste sie, dass die Kritik am platten "Frauen-Wir" und das Nachdenken über die Unterschiede unter Frauen längst ganz zentral zu jeder feministischen Debatte dazu gehören.

Kullmanns Kritik am Solidaritätsdenken teile ich voll und ganz, das ist schließlich seit Jahren eines meiner wichtigsten Themen. Aber wenn das bedeutet, dass der Feminismus zur bloßen Lobbyinstanz für Karrierefrauen wird, läuft was schief. Die Alternative zur Solidarität ist nicht Individualismus und Ego-Streben, sondern die konkrete Beziehung zwischen Frauen, eine Beziehung, die nicht auf einer angeblichen Gleichheit, sondern gerade auf Anerkennung der Differenz beruht. Dass die Unterschiedlichkeit eine feministische Bereicherung ist, hat bereits Jenny Warnecke in der taz-Debatte betont: Die verschiedenen „Bindestrich-Feministinnen“ könnten sich gegenseitig ergänzen und die Vielfalt möglicher Wege deutlich machen. Doch das reicht nicht. Solange jede nur ihren eigenen Weg geht und die anderen dabei freundlich toleriert, bleibt es langweilig. Wirklich interessant wird es erst, wenn Frauen ihre Unterschiede und Differenzen auch thematisieren und diskutieren, wenn sie sich füreinander interessieren, sich gegenseitig kritisieren, wenn sie sich streiten und so möglicherweise etwas voneinander lernen. Ich bin überzeugt, dass aus den Konflikten zwischen Frauen Lösungen und Ideen hervorgehen können, auf die jede Einzelne für sich gar nicht gekommen wäre.

In einem meiner Vorträge über diese Praxis des „Affidamento“ (der Vorschlag kommt ursprünglich von italienischen Philosophinnen), des sich-Anvertrauens an eine Frau, die anders ist, habe ich geschrieben: „Es geht um den sehr revolutionären Gedanken, dass Freiheit nur möglich ist, wenn ich eine Beziehung habe zu einer, die wirklich anders ist als ich. Einer, mit der ich Differenzen habe. Einer anderen, die nicht nur einfach etwas besser kann, sondern die etwas tut, das mir neu ist, das ich bisher vielleicht sogar für falsch gehalten habe. Denn nur dieses wirklich Anders-sein der Anderen, diese echte Differenz, die nicht Diversity ist, sondern Konflikt, ermöglicht es mir, etwas wirklich Neues zu entdecken, meine eingefahrene Meinung zu verändern, aus vorgegebenen Denkmustern und Bahnen auszubrechen – Freiheit also.“ Wenn wir also verstehen, dass Freiheit nicht aus Egoismus entsteht und dass echte Beziehungen sowieso niemals kritiklose Solidarität meinen, sondern offen ausgetragene Differenz, dann brauchten wir uns auch nicht länger an alten Klischees über die Welt und über die Frauenbewegung abzuarbeiten.

Beiträge von mir zum Thema:
Affidamento. Oder: Warum (und wann) Beziehungen zwischen Frauen die Grundlage weiblicher Freiheit sind:
http://www.antjeschrupp.de/affidamento.htm
Autorität statt Solidarität:
http://www.antjeschrupp.de/autoritaet_statt_solidaritaet.htm
Zu Thea Dorns F-Klasse:
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/?em_cnt=1001844&

Und hier sind die Links zu der Diskussion in der taz:
Ute Gerhard: Feminismus braucht Solidarität -
http://www.taz.de/index.php?id=start&art=3534&id=kommentar-artikel&cHash=a0d6d4c659
Katja Kullmann: Begrabt Gabi Mustermann –
http://www.taz.de/index.php?id=start&art=3837&id=kommentar-artikel&cHash=9734fd790a
Sabine Hark: Die Privatisierung der Politik -
http://www.taz.de/index.php?id=kommentar-artikel&art=4149&no_cache=1
Jenny Warnecke: Der Bindestrich-Feminismus -
http://www.taz.de/index.php?id=digitaz-artikel&ressort=me&dig=2007/09/11/a0116&no_cache=1&src=GI

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